Scrum(-buch) wie im Märchen
Endlich habe ich wieder ein Sachbuch gelesen, dass mit jeder Zeile Lust auf mehr und auf direktes Umsetzen und ausprobieren macht.
Dem Hamburger Autor, ehm, Geschichtenerzähler Holger Koschek gelingt es hier vortrefflich, die Freuden und Leiden eines Entwicklungsteams greif- und fühlbar zu machen, ohne dafür komplizierte Softwareentwicklungvorgänge zu schildern. Denn er entführt uns mit seiner Drachenfallenbauergeschichte ins neutrale „Wieimmerland“ (Assoziationen sind gewollt!) und ganz nebenbei natürlich auch ein Stück weit in unsere Kindheitsgeschichten. Illustrativ wird das mit Playmobilfiguren untermalt, was für meinen Geschmack verzichtbar wäre, zumal die ganzseitigen Fotos in schwarz-weiß gehalten sind.
Und so werden Scrum- und ‚lean‘-interessierte Leser nicht von Entwicklungsdetails abgeschreckt (Nicht-IT-Experten) und für Leser aus der IT und Softwareentwicklung besteht nun keine Gefahr, durch das Verlieren in technischen Umsetzungsdetails vom Wesentlichen der beschriebenen Methoden abgelenkt zu werden.
Zur Geschichte im Wieimmerland
Die Wieimmerländer könnten ihr gutes Auskommen mit ihren landwirtschaftlichen Produkten haben, wären da nicht die gefrästigen und darum lästigen Drachen unterschiedlichster Art und Größe. Denn sobald die Drachen beginnen, ihnen u.a. die Kohlfelder leer zu fressen, wird ihr Essen knapp. Und so bekämpft man die Drachen wo immer man kann, indem man ihnen Fallen baut und den Gefangenen dann die Ritter auf den Leib hetzt.
Des Königs Vision: die hochadaptive Drachenfalle
Nun ist das Wieimmerland bereits international bekannt für seine exzellenten Drachenfallen und der größte Exporteuer derselben in der Region. Aber die Drachen sind schlau und schaffen es immer sehr schnell, sich auch aus Fallen neuer Bauart zu befreien, auch gegenseitig und scheinen sich den Mechanismus zu merken.
Das bereitete dem König der Wieimmerländer große Sorge.
Ihn treibt eine Vision: Er will die beste Drachenfalle der Welt bauen lassen. Sie soll sich mit wenigen Handgriffen immer wieder anpassen lassen, um den Befreiungserkenntnissen der Drachen zuvor zu kommen, ohne immer neue Modelle bauen und aufstellen zu müssen. Das wär’s!
Woher soll das Team kommen?
Er beauftragte seinen Hofmarschall damit, ein Entwicklerteam aus den besten Fallenbauern des Landes zusammen zu stellen und ihm zu präsentieren. Zudem sollte eines der Einhörner aus dem Lande Scrum dazu kommen, weil man ihm erzählt hatte, dass man dort immer das bekäme, was man wollte, auch wenn man noch nicht so genau wußte, was es sein sollte. Wie machen die Einhörner das?
Dem armen Hofmarschall ging es in der ihm verfügbaren Woche ähnlich, wie Projektleitern im Unternehmen: natürlich waren „die besten Fallenbauer“ von ihren Werkstätten voll beansprucht und unabkömmlich für so ein königliches Geheimprojekt.
Also kam der Hofmarshall mit einer illustren Truppe zurück, anhand derer der Erzähler humorvoll und doch so treffend die uns aus vielen Projekten und Teams bestens bekannten Grundcharaktere herausarbeitet und belebt: ein überheblicher Ritter Magnolius, ein einsiedelnder Wittwer und Ex-Konstrukteur als „das Großväterchen“, das schüchterne Aschenputtel, die trotzig-freche Hexe und das faule, arbeitsscheue Schloßgespenst. Der Sohn des Königs, Prinz Rollo wurde zum Projektleiter, dem späteren Scrum Master ernannt.
Teambildung fühlbar statt belehrend
Wieder sorgt der erzählende Rahmen der Geschichte dafür, dass über aller Prozeßmechanik hinaus die allzu menschlichen Startschwierigkeiten eines solchen Teams sehr plastisch erfühlbar gemacht werden. So lernt man ohne belehrt zu werden.
Außerdem – Hand auf’s Herz! – hätten Sie nicht vielleicht die Kapitel mit dem weichgespülten Teamfindungsteil eh gleich überblättert, um „möglichst schnell zum Kern zu kommen“, vermeintlich?
Das kann hier nicht passieren.
Jedem Sprint ein Kapitel
Der Erzähler stellt uns zunächst Land und Leute vor; wer denkt da nicht gleich an die unverzichtbare Stakeholder- und Umfeldbetrachtung unserer neuzeitlichen Projekte?
Dann bewegen wir uns kapitelweise von Sprint 0 zu Sprint 7, dem finalen Sprint mit seiner Überführung in die Serienproduktion.
Nötige Fachlichkeit sichert das Einhorn Bumaraia als Scrum Coach
Dem Einhorn Bumaraia aus dem Lande Scrum fällt die Rolle des Scrum Coaches zu. Es wendet sich auch zwischen wichtigen Ereignissen und Erkenntnissen des Teams immer wieder direkt an uns Leser und versorgt uns mit fachlichem Hintergrund, was mit kursiv abgesetzten Schriftblöcken markiert wird.
Zudem bleibt der Erzähler mit dem Fachvokabular doch im Hier-und-Jetzt unserer Neuzeit: es wird also vom Projekt und vom Team geschrieben. Das mag fleissige Märchenleser anfänglich etwas irritieren, doch man gewöhnt sich sehr schnell daran und lebt dann förmlich mit seinen eigenen Projekterfahrungen direkt in der Geschichte. Und natürlich erleichtert es weniger märchen-affinen Lesern mit Wissensdurst den Zugang zum Stoff und dessen Übertragung in die eigene Praxis auch ohne Wörterbuch.
Das Buch ist somit absolut anfängertauglich, bleibt es doch durchgängig beim korrekten Methodenvokabular. Das geht leider soweit – das Bedauern spricht aus der rezensierenden Linguistin -, dass konsequent von „Backlog Items“ bzw. „Items“ gesprochen wird. Das ging mir persönlich dann doch etwas zu weit. Da hätte man doch je nach Kontext sicher auch von Aufgaben, Anforderungen und Anforderungsbeschreibungen, etc. sprechen können. Die wenigen Begriffe, die für die Geschichte dennoch ins Deutsche übertragen wurden, werden im Anhabg des Buches tabellarisch mit ihren englischen Pendants vorgestellt.
Der Rollenkonflikt des Ex-Projektleiters, der nun Scrum Master sein soll
Sehr schön nachfühlbar ist auch der Rollenkonflikt des Prinzen Rollo, der trotz seiner streng hierarchischen Prägung die Rolle des Scrum Masters ausfüllen soll. Wie im wahren Leben ist er jedoch mit zusätzlichen Aufgaben des Königshauses betraut, ist selbst noch Scrum Anfänger, fühlt sich erdrückt von Erwartungen und Anspruchshaltungen, ist jung und unerfahren im Umgang mit der Unterschiedlichkeit der Teammitglieder und dem Auftrag, sie zu einem effektiv arbeitenden Team zusammen zu schweißen.
Auch Scrum ist kein Allheilmittel
Im Epilog macht das Einhorn Buramaia noch einmal deutlich, das auch Scrum bzw. jegliche agile Methoden „keine Allheilmittel“ sind. Stattdessen stellt uns die damit verbundene, Transparenz zunächst vor scheinbar neue Probleme, de facto jedoch deckt es die vorhandenen Probleme schonungslos auf und spart uns mit dem frühen Aufdecken und der Chance zur Verbesserung sehr viel Zeit und Geld. Denn Probleme gibt es überall, wo Menschen zusammen kommen, um anspruchsvolle Aufgaben unter großem Zeitdruck zu lösen. Nur kann man sich im Scrum – das Buchbeispiel – nicht mehr vor ihrer Offenlegung drücken.
Werte in der Geschichte
Das Buch vermittelt mit seiner Geschichte alles das, was Scrum laut Beedle und Schwaber, den Scrum Vordenkern in seinen Grundwerten ausmacht:
„Selbstverpflichtung (Commitment)“, „Fokus (Focus)“, „Offenheit (Openness)“, „Respekt (Respect)“, „Mut (Courage)“, zitiert nach H. Koschek.
Mithilfe der Geschichte bekommen diese abstrakten Begriffe spürbaren Inhalt. Und so überträgt sich mit den Zeilen die Herzenswärme bzw. Empathie und die Liebe zur Aufgabe, die nach meiner persönlichen Wahrnehmung ebenfalls dazu gehören, um diesen Grundwerten Leben einzuhauchen.
Fazit
Nachteil der Darreichungsform als zusammenhängende Geschichte: das Buch eignet sich nicht gut als Nachschlagewerk, obwohl es ein gutes Inhaltsverzeichnis und einen Schlagwortregister hat. Da empfehle ich als Ergänzung aus demselben Verlagshaus u.a. „Scrum in der Praxis“ von Sven Röpstorff und Robert Wiechmann, das auch gleich noch etliche nützliche Checklisten für den unerfahrenen „Prinz Rollo“ 😉 bereithält.
Ich empfehle Koscheks Buch jedem, der agil arbeiten möchte oder soll, egal in welcher Rolle. Auch internen Auftraggebern hilft es, zu verstehen, mit welchen Schwierigkeiten zu rechnen ist und gibt ihnen ein Gefühl, wie schnell dennoch Mehrwert generiert werden kann und durch was.
Viel Spaß bei der Lektüre!
Probeseiten & eine kleinen Podcast zum Buch gibt es auf der Verlagshomepage: https://www.dpunkt.de/buecher/3276.html
Mehr zum Autor auf seiner Homepage bzw. im Blog: https://.holger.koschek.eu/ueber-mich/
Eine Antwort auf „Buch: „Geschichten vom Scrum““
[…] P.S. Mehr zum Buch auch hier im Blog: https://.blog.csh-beratung.de/buch-geschichten-vom-scrum/ […]